Ein Essay von Jörg Mandt (Buchautor „Endstation Schlager“ und Team Gabis-Schlager.Club)
Mal ehrlich, das Jahr 2024 ist nun zur Hälfte rum. Hunderte neue Schlager wurden im ersten Halbjahr veröffentlicht. Ganz gleich, ob Pop-, Party- oder klassischer Schlager. Aber ist ein Titel dabei, der wirklich ein Hit ist, der noch in 5 oder 10 Jahren textsicher bei jeder Party mitgesungen wird? Wie beispielsweise „Michaela“, „Joana“, „Ein Bett im Kornfeld“, „Schatzi schenk mir ein Foto“, „Atemlos“ oder „Warum hast du nicht nein gesagt“. Der Schlager jedenfalls erlebt aktuell kein Sommermärchen.
„Wir werden nicht durch die Erinnerungen an unsere Vergangenheit weise, sondern durch die Verantwortung für unsere Zukunft“, sagte der großartige irischer Dramatiker, Musikkritiker und Literaturnobelpreisträger George Bernard Shaw.
Aber was bringt uns die Schlagerzukunft? Prognosen und Blicke in die Zukunft sind leicht erstellt und deshalb besonders beliebt bei Politikern. Denn kein Mensch kann nachprüfen, ob das Vorhergesagte auch wirklich eintrifft und die meisten haben es bis dahin in unserer schnelllebigen Welt sowieso vergessen.
Deshalb ist ein Blick auf die Fakten in der Gegenwart vielleicht hilfreicher. Die große Schlager-Transformation hat längst begonnen und wird geprägt durch den Algorithmus und der KI der Streamingdienste. Wurden früher nur ein bis zwei neue Songs von einer Künstlerin oder einem Künstler im Jahr veröffentlicht, geht es inzwischen im vier bis sechs Wochentakt. Ein Titel hat gar nicht mehr die echten Chancen online in Social Media, in TV, Radio und bei Live-Auftritten langfristig promotet zu werden. Da ist schon der neue Titel am Start. Also heißt es nur noch „Top oder Hop“.
Und wer dann doch einmal einen Auftritt bei einer großen Samstag-Abend-Show bekommt, merkt in der nächsten Woche nur wenig im Streaming oder in den üblichen Downloadportalen. Vor 10 Jahren war das für den Song noch sicheres Gold! Am Samstag vor ein paar Wochen schickte das Erste seinen „Schlagerboom Open Air“ mit Florian Silbereisen über den Äther. Es lief befriedigend, jedoch war das ZDF einfach sehr viel besser. Die TV-Quote rutschte von 4,01 Mio im Vorjahr auf 3,59 Mio in 2024. Das sind immerhin knapp 11 Prozent weniger! Aber das ganze läßt sich dann irgendwie über sogenannte Reichweiten immer noch schön rechnen. Nur Reichweiten kaufen keine Alben, streamen keine Songs oder kaufen Konzert-Tickets, von denen die Künstler leben.
Eigentlich wäre das doch eine tolle Chance für kreative Newcomer, Texter, Produzenten um mit einer einzigartigen Song-Idee über die zahlreichen und beliebten Social Media Plattformen wie TikTok, Instagram, Facebook viral zu gehen und ein Millionenpublikum zu erreichen. Aber auch da werden immer nur die gleichen musikalischen Schubladen bedient. Der Schlager und seine Macher hatten noch nie Mut, warum sollte sich das jetzt ändern?
Was geht eigentlich aktuell viral mit einer Fußball-EM im eigenen Land und sehr gut besuchten Fanmeilen in Hamburg, Berlin, Köln, Leipzig, Dortmund, Frankfurt und sogar Gelsenkirchen?
Im Partybereich zündelt ein wenig „Pyrotechnik“ von Ike Hüftgold & Co oder wird Joker „Füllkrug“ (der Name passt zu den Ballermann Saufliedern) gefeiert.
Im Netz wirklich abgefeiert wird ein Holländer mit Namen „Snollebollekes“ und sein alter Partysong „Links Rechts“. Millionenfach geklickt durch die Europameister im feiern – die Holländer bei den Orange-Fanmärschen in Hamburg und Leipzig. „Snollebollekes“ ist inzwischen auch international Platz 1 bei den Downloads vor Weltstars wie Eminem, Beyoncé oder Taylor Swift. Mickie Krause hat bereits 2018 von dem Song ein deutsches Cover (ähnlich wie beim Schatzi-Song) gemacht und siehe da, er ist plötzlich auch wieder in den aktuellen Download-Charts.
Ein weiterer viraler Hit ist ein Zungenbrecher aus Berlin von einem gewissen Duo Bodo Wartke und Marti Fischer. „Barbaras Rhabarberbar“. Allein bei Spotify fast 17 Millionen Streams in nur wenigen Wochen. Mitsingen kann das leider kein Mensch und nach ein paar Bieren schon gar nicht. Trotzdem hätte ich die gern in einer Samstag-Abend-Show gesehen, auch wenn das Publikum da nicht auf drei und eins mitklatschen kann…
Aus Holland kommen nicht nur Käse und Tulpen
Zurück nach Holland. Daher kommen nicht nur Käse und Tulpen. Der Popschlager und ideale Disco-Fox „Engelbewaarder“ (Schutzengel) von Marco Schuitmaker geht seit einem Jahr steil. Über 60 Mio Streams bei Spotify (15 Mio bei YouTube) in einem Land mit nur 17 Millionen Einwohnern. Einfach mal anhören.
Beim EM-Testspiel Deutschland gegen Griechenland bin ich nach einer müden ersten Halbzeit bei einer Sendung im ersten Programm der Niederlande NPO („Nederlandse Publieke Omroep“) hängen geblieben. Beim „Muzikfeest van Oranje“, Open Air in einem kleinen Hafen von Zeewolde und selbstverständlich Eintritt frei, sind alle niederländischen Stars wie beispielsweise Jan Smit (ehemals „Klubbb3“) aufgetreten. Sie haben dort eine neue Version ihrer großen Hits gesungen, die die holländische Mannschaft unterstützen sollen. Auf Booten, Straßen, Brücken und Balkone ein einziges oranges Farbenmeer. Ja, ich dachte, die EM findet in Holland und nicht hier in Deutschland statt.
(Hier online zu bestaunen: https://npo.nl/start/serie/muziekfeest-op-het-plein/seizoen-1_3/muziekfeest-van-oranje/afspelen )
Vielleicht sind die Holländer besser drauf, weil sie für ihr öffentliches TV keine GEZ-Gebühren zahlen müssen…
Einen Tag später dann das „Schlagerboom Open Air“ aus Österreich. Viele deutsche Stars singen ihre neuen und natürlich wie immer ihre alten Klassiker. Man stelle sich das mal vor, Florian Silbereisen und seine Stars hätten das deutsche Team gefeiert, wie die holländischen Künstler im TV. Was hängen blieb ist nur das inzwischen wohl 134. Cover von „Dankeschön“ von Olaf dem Flipper… und die schlechteste TV-Quote für eine Samstag-Abend-Liveshow von Florian Silbereisen.
Nein, der deutsche Schlager erlebt kein Sommermärchen.
Der Sommer ist auch Festival-Zeit. Was mir aufgefallen ist und zahlreiche Gespräche mit Veranstaltern bestätigen das: es wird für alle wirtschaftlich sehr viel enger. Außerdem steigt die Zahl der Veranstaltungen kontinuierlich an. Die Konkurrenz ist groß und jeder versucht sein Glück, will seinen Teil vom schrumpfenden Schlagerkuchen abhaben. Außen vor sind die Superstars wie Andreas Gabalier, Helene Fischer oder Roland Kaiser, die alleine Stadien oder Konzertarenen füllen.
Ich meine hier die zahlreichen Events „Ein Motto – viele Künstler“. Ob Pop- oder Partyschlager, da zeichnet sich ein Trend ab. Wer die vielen Anzeigen für diese Veranstaltungen in seiner täglichen Storyline auf Social Media mal genauer anguckt, entdeckt schnell, es sind fast immer die gleichen Headliner. Rund 20 Künstlerinnen und Künstler, die noch viele Tickets verkaufen und ihre ständig steigenden Gagen also gerechtfertigt sind. Beispiel: Oli P. und Mickie Krause sind fast überall dabei!
Da die zusätzlichen Kosten für Sicherheit, GEMA, Personal, Technik weiter steigen, werden als erstes nur noch Künstler gebucht, die auch wirklich viele Tickets verkaufen. Die „2. Schlagerliga“ oder Newcomer haben es da immer schwerer. Und selbst einige große Namen sind leider nur noch typische Fernsehkünstler. Bei jeder Show dabei, verkaufen aber nicht so viele Eintrittskarten, wie sie Gagen + Reisekosten fordern. Warum das so ist?
TV-Publikum und Live-Eventpublikum sind zwei verschiedene Zielgruppen und die Strahlkraft von TV hat inzwischen verloren. „Bekannt aus Funk und Fernsehen“ ist schon lange kein Verkäufer mehr!
Und selbst am Ballermann beklagen Party-König wie Mickie Krause oder Mia Julia, dass viele Club-Besucher an der Playa inzwischen mehr mit ihrem Handy beschäftigt sind, als der Show auf der Bühne zu folgen.
Peter Wackel beim Opening im Bierkönig ist bei der Ankündigung zu seinem neuen „alten Petry“ Song „Weißer Geier“ schon ehrlicher. „Wir nehmen die Hände hoch für das Kamera-Team und klatschen im Takt“, ruft er ins Publikum.
Das sind die Gewinner im Live-Business
Gewinner sind die Schlager-DJs. Lange vergessen, weil es keine Schlagerdiscos, -Clubs und -Kneipen mehr gibt. Selbst die legendäre „Drehscheibe“ in Essen von Schlagergott René hat jetzt für immer ihre Türen geschlossen. Aber plötzlich sind die DJs auf Schlager-Veranstaltungen wieder angesagt. Sie kosten nur den Bruchteil eines Künstlers und sie haben alle alten und die wenigen neuen Hits auf ihrem USB-Stick.
Gewinner sind auch die Veranstalter von Schlagerevents, die sich seit vielen Jahren ihr Stammpublikum fair aufgebaut haben. Wo der Ticketkauf also kein finanzielles „Himmelfahrtskommando“ ist. Und keine bekannten Künstler angekündigt werden, die dann gar nicht erscheinen oder den „Image-Betrug“ vorher klarstellen.
Schlager-Framing auch das gibt es inzwischen.
„Framing“, das ist die Beeinflussung von Menschen durch sprachliche Formulierungen. Die sich meistens irgendwelche Marketing-Schnösel ausgedacht haben.
Ehrlich, ich kenne keinen Menschen, der nicht für Frieden und Demokratie ist. In der Politik ist es das Wort „Demokratie“, das aktuell rauf und runter gebetet wird. In den Boulevard-Medien das Wort „Geheimnis“. Alles ist inzwischen ein „Geheimnis“ und wie war noch gleich der Titel vom neuen Roland Kaiser-Song „Mein Geheimnis“?
Bei den bunten Klatschblättchen an der Supermarktkasse ist es seit Jahren das berühmte „Drama“. Drama-Rekordhalter sind: Helene Fischer, Florian Silbereisen, Stefan Mross und natürlich Prinzessin Kate sowieso.
Bei allen Medien wird mit dem Adjektiv „umstritten“ vor einem Namen das Negative als Meinungsmache herausgestellt. Das geht mir inzwischen sowas von auf den Keks.
Debatten gehören für mich jedenfalls noch zur vielfach beschworenen Demokratie. Und wenn nur einer eine andere Meinung hat, wer kennt das in den Social Media Kommentaren nicht, ist sie oder er „umstritten“. So sind selbst inzwischen die „unberührbaren“ Helene Fischer, Andrea Berg, Florian Silbereisen und der Papst „umstritten“! Für Insider: Ich meine hier nicht den Schlagerpapst aus München, sondern den echten aus dem Vatikan!
Dazu fällt mir nur ein Zitat von Schauspieler und Schriftsteller Helmut Qualtinger ein: „Moralische Entrüstung ist der Heiligenschein der Scheinheiligen.“
Oder dieser Facebook-Kommentar: „Bei meiner Beerdigung sollen Helene Fischer und Michael Wendler bitte live singen. Ich bin sowieso tot, aber die anderen sollen noch leiden.“
Und wie sieht es mit Framing im Schlager aus? Natürlich gibt es das auch seit Jahren. Denn das Thema Schlager ist nun einmal pure Fiktion. Gesungene Märchen wie bei Rosamunde Pilcher, im ZDF-Traumschiff und inzwischen manchmal auch bei der Tagesschau…
Alle und jeder hat bei einem Song Gänsehaut. Schlagerkünstler sind immer zu Tränen gerührt und haben ihren Songs für die Oma, Mutter, kranke Tante oder eine Ex-Liebe geschrieben. Na und, was würde es für einen Aufschrei geben, wenn sie ehrlich sagen würden. „Ich will mit dem Song Geld verdienen. Nicht mehr und nicht weniger!“ Denn auch Schlagerkünstler müssen teure Mieten, Lebensunterhaltungskosten, die GEZ und Steuern zahlen.
Schlager ist und bleibt Fiktion
In den Pressemitteilungen zu den neuen Songs wird schon vorher von einem Hit gesprochen, obwohl das Publikum, als die „Schlagerwähler“ noch gar nicht abgestimmt hat. Natürlich soll man sich in einer Promotion nicht selber schlecht machen. Aber es gibt im Leben nicht nur A-Seiten, sondern auch viele B-Seiten.
Und viele Veranstalter sind im 80er Wording der Superlative hängen geblieben. Neue Denke findet hier nicht statt. Alle Events sind da das „größte der Welt“. Als wenn sich einer in Kanada, Kabul, Peru, Vietnam oder auf den Fidschis wirklich für Schlager interessieren würden. Auch das Framing „… aller Zeiten“ wird immer wieder gern genutzt. Man muss aber nicht alles kaputt steigern. Wie wäre es mal mit Content-Marketing?
„Authentisch“ ist in der neuen Schlager-PR sowieso schon alles. Obwohl das ja für die Tatsachen entsprechend und Glaubwürdigkeit steht. Aber Schlager ist und bleibt nun mal Fiktion.
Und nun zum Abschluss mein persönliches Schulbeispiel von Framing. Ist das Schlagerglas im Sommer 2024 für euch nun halbvoll (positiv) oder „halbleer“ (negativ). Ich bin gespannt. Am wirklichen Sachverhalt ändert sich natürlich nichts!
Fotocredit: Aufmacher: ©pressefotos_künstler, ©presse snolleboellekens @npo_muziekfeestvan oranje @Montage: presse ard, universalmusic, pressevatikan
Text: Jörg Mandt (Team Gabis-Schlager.Club und Buchautor “Endstation Schlager”