Ein Essay von Jörg Mandt (Buchautor „Endstation Schlager“ und Team Gabis-Schlager.Club)
„Wir werden nicht durch die Erinnerungen an unsere Vergangenheit weise, sondern durch die Verantwortung für unsere Zukunft“, sagte der großartige irische Dramatiker, Politiker, Satiriker, Musikkritiker und Literaturnobelpreisträger George Bernard Shaw.

Schauen wir doch gemeinsam auf die gestrige Sendung „Schlagerchampions“ mit Florian Silbereisen live aus dem Berliner Velodrom. Denn diese Sendung steht emblematisch für die Erinnerungen an das Schlagerjahr 2023 und ist wegweisend für die Schlagerzukunft 2024. Also, die große Schlager-Transformation oder „Same procedure as every year..?“
Doch zuvor muss ich euch kurz von meinem Traum berichten: Ich treffe in meiner Vision Florian Silbereisen noch mit Vokuhila-Frisur in der alten TV-Feste-Dekoration, die mich immer an „Alice im Wunderland“ erinnerte. Nur hatte Alice für alle eine echte Message: „Man darf sein Leben nicht nach anderen richten. Du allein musst die Entscheidung fällen.“ Beim Schlager scheint das etwas anders zu sein.
In meinem Traum frage ich den beliebten TV-Moderator „The same procedure as last year, Florian?“ Und er antwortet mir: „Same procedure as every year, Jörg“.
Mein erster Eindruck: Die Transformation des Schlagers in Sachen Licht- und Feuerwerksshow ist inzwischen voll gelungen. Ebenso beim Tempo, in dem die Künstler präsentiert werden. Im Talk wird nur noch kurz die nächste Tournee oder das nächste Album promotet oder der Vorverkauf mit dem roten Buzzer gestartet.
Außer vielleicht bei Semino Rossi, der etwas verklärt dreinblickte, als er die weltbewegende „Zuschauerfrage“ „Hast du immer noch Lampenfieber?“ gestellt bekam. Ein Sänger, der seit über 20 Jahren im Show-Geschäft ist, davor auf Geburtstagsfeiern und auf der Straße gesungen hat und diese Frage im TV gefühlt schon einige hundert Male beantwortet hat. „Same procedure as every year…“
Warum fragt ihn eigentlich nie jemand, warum er immer wie festgenagelt auf der Bühne steht – „Bist du ein Bewegungsmuffel Semino?“

In drei Jahren Spitzenschlager (seit der letzten Champions-Show noch unter Corona-Bedingungen) hat sich beim Lineup nicht sehr viel verändert. Mit den Champions Thomas Anders, Ben Zucker, DJ Ötzi, Sarah Engels, Matthias Reim, Maite Kelly, Ross Antony, Kerstin Ott, Golden Voices of Gospel oder Beatrice Egli waren übrigens die selben Künstler wie 2021 in der Show: „Same procedure as every year…“
Wenn diese Show auch ein Zeitzeugendokument des vergangenen Schlagerjahres war, dann ist das Fazit: Die Menschen wollen in diesen Krisenzeiten, zu der übrigens nicht nur Kriege, sondern auch Preisexplosionen an den Supermarktkassen und Tankstellen, Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Rezession gehören, wieder emotionale Momente und das geht am besten mit den alten Hits, die jeder mitsingen kann.
Hits aus einer besseren, glücklicheren Zeit, als das Kulturgut Schlager und alle lebens- und liebenswerten Dinge noch physisch waren – nicht digital. Da rastet das Velodrom und auch ich aus, als hätte meine Oma mir noch einmal ihren berühmten „Falschen Hasen“ (Hackbraten) serviert. Alles glitzert, alles funkelt. Hier wurde 100 Prozent, nicht nur von Helene Fischer, abgeliefert. „Same procedure as every year…“
Nach zahlreichen Kuschelmomenten und Liebes-Duetten von Florian Silbereisen und Beatrice Egli, zuletzt in einer alten Telefonzelle, wurden die zwei diesmal in ein Bett gelegt. Und die „Was läuft da mit“- Fraktion der Das Goldene Blatt- und NEUE POST-Leserinnen hat ihren ganz besonderen fiktionalen Glücksmoment. „Same procedure as every year…“
Nachdem in der letzten Schlagerchampions-Show vor drei Jahren noch das Schlagerpaar des Jahres mit Stefan Mross und Anna-Carina Woitschack mit „1000 mal Du und Ich“ inszeniert wurde, waren es nach Trennung, Rosenkrieg inklusive schmutziger Medienwäsche, diesmal Schlagermutter Michelle und ihr junger Lover Eric Philippi nicht minder romantisch in Szene gesetzt. „Same procedure as every year…“ TV-Heiratsantrag, TV-Hochzeit, TV-Trennung und das große TV-Comeback von Michelle („Die Fans wollen es so!“) sicher noch offen.
Verwunderung: Online Preis – was bitte ist das denn? Online bezeichnet den Zustand, in dem ein Gerät über eine Kommunikationsschnittstelle verfügt, bereit ist, Daten über diese Schnittstelle zu senden oder zu empfangen. Der Preis hätte doch eigentlich für das erfolgreiche TV-Streaming vergeben und tituliert werden müssen. Da war die Redaktion wohl gerade offline…
Schön das zumindest kurz das Thema Frieden angesprochen oder inszeniert wurde. Wie mit Ben Zucker mit dem Hans Hartz-Klassiker „Die weißen Tauben sind müde“ (wie es übrigens von mir schon in meinem Essay im Oktober 2023 angeregt wurde) und auch Howard Carpendale spricht als „Sänger des Jahres“ über das Thema, dass die Medien und die Ängste der Menschen beherrscht.
Schade nur, das dies mehr von einer PR-Praktikantin („Irgendwas mit Weltfrieden“) inszeniert und wenig authentisch rüberkommt. Wie wäre es mal damit: „Wenn ich einen Sonnenaufgang oder ein Gewitter sehe, glaube ich an Gott, sehe ich die Toten in den aktuell über 350 Kriegen auf der Welt, verliere ich den Glauben an ihn.“ Gesegnet sind die, die keine Erwartungen haben.

Und da auch irgendwie die Zuschauer vom ORF aus Österreich bedient werden müssen, um die 1954 in Genf gegründete Marke „Eurovision“ im Vorspann mit Fanfare aufrecht zu erhalten, die eigentlich nur noch beim päpstlichen Ostersegen wirklich europaweit ihren Namen verdient. Hat der TV-Schlagerpapst aus München Schwabing uns Zuschauern einen gewissen Chris Steger aus dem Salzburger Land als Shooting Star des Jahres präsentiert. Der hatte bereits mit „Zefix“ vor 4 Jahren den Song des Jahres in Österreich.
Ehrlich, zuerst dachte ich, hat Andreas Gabalier jetzt auch schon einen Sohn, der bei Silbereisen auftreten darf? Lederhose, Holzfällerhemd, Wandergitarre und Gabalier-Tolle, aber dann sang der Shootingstar, der in 2023 keinen mir bekannten Auftritt bei einem der vielen Schlager-Events in Deutschland hatte, den Nena-NDW-Klassiker „Irgendwie, irgendwo, irgendwann…“ „Same procedure as every year…“

Man(dt) darf ja mal träumen. Wenn beispielsweise Florian Silbereisen, Schlager-TV-Papst Michael Jürgens in 2024 zusammen mit Konzept-Geller etwas wirklich Innovatives gelingen würde. Zum Beispiel ein Duett „Zusammen stark“ von Helene Fischer mit Andrea Berg, um gegen die Spaltung in unserer Gesellschaft zu singen. Das Team könnte sich dann gemeinsam in einer der nächsten Jubiläumsshows die Schlager-Tiara aufsetzen.
Komm’ liebe ARD so schwer ist das doch nicht. Immerhin ist es mir bei der Veranstaltung „Mein Star des Jahres“ bereits vor Jahren gelungen, Andrea Berg zu überreden eine Laudatio für Helene Fischer zu halten und beide zusammen auf die Bühne zu bringen. Umarmung statt Zickenkrieg!
Oder aber ihr schafft wirklich eine Musik-Transformation, einen Schlager- oder Popsong für den „Neustart“ in Deutschland mit allen großen Champions von Andrea Berg, Roland Kaiser, Helene Fischer, Maite Kelly, Matthias Reim, Kerstin Ott, Ben Zucker, Vicky Leandros zusammen mit Herbert Grönemeyer, Udo Lindenberg, Max Giesinger, Boss Hoss, Peter Maffay und vielen mehr. Sowas wie ein „Live Aid“ für Germany für die Sturm- und Flutopfer, für die gebeutelten Rentner, für die Schüler und alle, die in den nächsten Monaten den Gürtel viel, viel enger schnallen müssen. Komm’ ARD ihr schafft das schon, für Deutschland und natürlich für die Demokratie… Sonst heißt es auch bei den nächsten Silbereisen-Shows wieder: „Same procedure as every year…“

Ach ja, was sagen eigentlich die Quoten an einem nasskalten Samstagabend, wo eigentlich Deutschland vor dem TV-Bildschirm sitzen muss? 4,67 Millionen Zuschauer, das ist nicht schlecht, aber der Helene Fischer Quotenbooster (der schon mal rund eine Millionen brachte) zieht auch nicht mehr. Dafür sehr gute Werte in der jungen Zielgruppe (Dank dem Partyschlager „Dankeschön“ von Olaf dem Flipper (77 Jahre)? Fazit: Es gibt rund 2 Mio mehr ZDF-Krimi- als Schlagerfans in Deutschland. „Same procedure as every year…“
In der Show sprechen einige Künstler etwas realitätsfremd davon, dass der deutsche Schlager so boomt wie noch nie. Andere Klugscheißer in den sozialen Medien behaupten, der Schlager ist mal wieder am Ende. Immer nur dieselben Künstler in denselben Shows.
Der Grund dafür ist ein doppelter Irrtum: Der Schlager war nie so stark wie seine Fans seit Jahren behaupten. Allerdings ist er auch nicht annähernd so angeschlagen, wie seine Kritiker heute hoffen. Ein institutionalisierter Interessenkonflikt bringt dem ohnehin gebeutelten Musikgenre diesem ambitionierten Ziel gewiss nicht näher.
Die Momentaufnahme vom Schlager erinnert mich an ein Bild vom Klondike im kanadischen Yukon. Der Goldrausch von 1897 ist schon lange vorbei, aber immer noch stehen heute dort Leute am Flussufer und suchen nach Gold. Die Legende vom „schnellen Reichtum“ hat überlebt wie die vom Schlagerboom in Deutschland. Und Woche für Woche stellen sich neue Newcomer an den „Popschlagerfluss“ und hoffen auf das ganze große Glück. Ich drücke euch die Daumen und mehr! „Same procedure as every year…“
Das Wort des Jahres 2023 war „Krisenmodus“. Es war kein gutes Jahr für Deutschland. Der Industriestandort ist unter Druck und die Energiefrage ungelöst. Das Land steht vor großen Herausforderungen. Manchmal habe ich Albträume und bin froh, wenn ich morgens in der Realität mit dem Gefühl von Sicherheit und „Alles ist gut“ aufwache.

Was aber, wenn nach dem Traum der Albtraum plötzlich in der Realität beginnt. Wo ist eigentlich, die so oft in Schlagern besungene Leichtigkeit im Land hin? Um es mit den Worten, von Mickie Krause zu sagen: Erst mal Bier holen oder drei Tage wach bleiben kann es ja nicht sein. Größer, schneller, weiter sind keine gängigen Attribute für das neue Schlagerjahr 2024.
Die Schlager-Transformation im Vertrieb ist fast beendet. Digitales ist auch in diesem Musikgenre inzwischen die Währung der Zukunft. Für viele Künstlerinnen und Künstler reichen die monatlichen Einnahmen daraus aber kaum für eine Familienpizza plus Getränke im Restaurant.
Die Folge: Nur noch im Live-Geschäft kann man wirklich Geld erwirtschaften. Ein Blick in ein Ticket-Portal bestätigt, alles geht in jetzt Live. Tickets für die Helene Fischer Stadion-Tour für 2026, für Andrea Berg für 2025 stehen ganz oben im Portal. Roland Kaiser geht in diesem Jahr auf Stadion-Tour, ebenso wie Andreas Gabalier. Abschiedstour „Goodbye“ für Mireille Mathieu, für Vicky Leandros, für Michelle mit der Schlagerfest-XXL-Tour, DJ Ötzi ebenfalls mit Silbereisen auf XXL-Tour und danach mit „Mountain Mania“ on Tour. Natürlich stehen auch Beatrice Egli, Giovanni Zarrella, Kerstin Ott, Santiano Open Airs auf dem Programm. Dazu Nino de Angelo, Voxxclub und sogar Gitte Haening erfindet sich „Für immer Neu“, Schlagernächte und Sterne gar nicht mitgezählt. Allein bei Eventim gibt es aktuell 1323 Konzerte für Schlager und Volksmusik im Angebot. Das sind fast vier Konzerte allein für 2024 täglich. Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld?
Während wir mit Freunden beim Stadion Open Air die großen Hits von Roland Kaiser mit tausenden Besuchern abfeiern, kämpfen irgendwo ein paar Kilometer weiter, junge Pop-Schlagerkünstler bei einer Parallelveranstaltung vor 165 Zuschauern um das Überleben des Veranstalters.
So ist unsere Beziehung zur Schlagerwelt. Es gibt diese absurde Gleichzeitigkeit der Ereignisse. Schlagerfans sind hin- und hergerissen zwischen ihrer Empathiefähigkeit für talentierte Newcomer, für „Einzelkämpfer“ im großen Haifischbecken der Branche, die keine Nächstenliebe kennt und dem Abfeiern der großen Stars auf ihren Konzerten.
Es gibt kaum noch die Neugier auf etwas Neues in der Branche, denn ein Ticket könnte hier auch eine Fehlinvestition sein. Also gebe ich meine Euros lieber für das aus, was ich bereits kenne und lieben gelernt habe. Und mit Klassikern und Coversongs haben die Konsumenten vor der Bühne oder am Bildschirm sowieso viel weniger Probleme, als selbsternannte „Kritiker“ und „Profis“.
Viele Besucher und Künstler gehören inzwischen zu einer Generation, die glimpflich davon gekommen ist. Aber wer sich mal ehrlich mit der nächsten Schlagergeneration (Nein, es wird nicht die Letzte sein!) unterhält und einen Diskurs der Hoffnung führt, disqualifiziert sich oftmals selber. Bei vielen jungen Sängerinnen und Sängern kann ich in diesen Gesprächen förmlich ihre Ohnmacht spüren. Auch wenn sie Minuten später wieder auf der Bühne stehen und uns in ihren Schlagern versprechen: „Freunde, es wird alles gut!“.
Der Party- und Ballermannschlager wird auch in diesem Jahr weiter oben auf der Erfolgswelle schwimmen. Manchmal brauche ich sieben bis neun Bier, um mich den Texten inhaltlich und philosophisch zu nähern. Aber der Erfolg spricht für sie. Die Party Girls- und Jungs aus den Mallorca-Mega- und Bierkönig-Parks liefern die großen Hit-Klassiker für die nächsten Schlagergenerationen. Die sich dann an glückliche Zeiten, Flirts und Partys in den zwanziger Jahren des neuen Millenniums erinnern. Ich geh dann mal Bier holen und freue mich schon auf die „Dankeschön-Abschiedstour“ von Olaf dem Flipper 2035 oder 2040. Man wird ja noch träumen dürfen.
Eines wird allerdings nie aussterben: Der Schlager-Klugscheißer! Manche sagen, ich wäre auch einer. Na und?
Dazu ein Zitat aus meinem Buch: „Endstation Schlager“: Wir leben, um unseren Herzen Risiken auszusetzen. Und das Letzte was wir wollen, ist irgendwann einmal zu sagen: „Hätte ich nur!“
Also, „Same procedure as every year..?“
Dankeschön an Jörg Mandt (Buchautor „Endstation Schlager“ und Team Gabis-Schlager.Club) für dieses ehrliche Essay.
© Fotos: Silbereisen: ARD Beckmann/Jürgens-TV, 2. Matthias Reim: Presse Semmel Concerts/maxpatzig, 3. Pressefoto: Chris Steger, 4. Helene Fischer, Andrea Berg: Privat, 5. Olaf der Flipper/ARD Schlagerchampions 2024, 6. Pressefoto Mickie Krause, 7. Florian Silbereisen, Jörg Mandt: privat