Eine Reportage von Jörg Mandt (Buchautor „Endstation Schlager“ und Team Gabis-Schlager.Club)
„Die einzige Wahrheit liegt in der Musik“ schrieb einmal der Poet der Beatgeneration Jack Kerouac. Gut, der Mann kannte nicht den deutschen Schlager. Trotzdem hat diese philosophische Anschauung für mich auch heute noch ihre Gültigkeit. Selbstverständlich auch im Schlagergenre.
Was ich heute mit einem kleinen Erlebnisbericht vom Festival „Schlagerwelle“ am Weissenhäuser Strand an der Ostsee für euch belegen möchte. Dabei könnte ich hier, wie so viele andere Berichterstatter auch, chronologisch aufzählen, wer wann mit welchem Song aufgetreten ist.
Mache ich aber nicht, das passt nicht zu mir, ist nicht authentisch und eigentlich eines Journalisten der „alten Schule“ nicht würdig. Where is the Schlager-Beef?
In meinem Festival-Bericht möchte ich euch hier über die neue Schlagerwirklichkeit berichten. Über Routinen und Wahrnehmungsmustern aus der Schlagerwelt, in denen noch zahlreiche Fans und Künstler*innen verharren. Je mehr wir in solchen Denkmustern, in solchen festen Erwartungen und Annahmen feststecken, desto weniger nehmen wir tatsächlich wahr, dass sich der Schlager auch ständig weiterentwickelt und damit verändert.
Die Schlagerwelle und ihre Besucher an diesem Wochenende sind der beste Beweis dafür. Also raus aus dem Schubladendenken und rein ins Festival-Zelt…
Der energiegeladene Auftritt der JunX hat gezeigt, das Schlager nicht nur das ewige Thema leidenschaftliche Liebe in C-Dur ist. Temperamentvoll hat das Duo bewiesen, das auch die Songs von Singer-Songwritern wie Max Giesinger oder Altpunkern wie die Toten Hosen an Tagen wie diesen inzwischen zur Schlagerwelt gehören.
Eine Mittdreißigerin neben mir im Zelt, mit blau gefärbten Gesicht und Schlumpfine-Outfit singt die Songs leidenschaftlich und textsicher mit, genauso wie später „Das Lied der Schlümpfe“ von Vader Abraham aus dem Jahr 1978. Raus aus dem Schubladendenken!
Wenn findige Werber aus einem Schokoladenriegel die „längste Praline der Welt“ machen. Dann haben die JunX mit ihrem internationalen Hit-Refrain-Medley an diesem Wochenende den „größten Super-Hit der Welt“ gelandet. Und tausende im Festival-Zelt feiern euphorisch diesen einen musikalischen Augenblick.
Und das ist der Moment, als Schlagerrentner Jürgen Drews über die große LED-Wand digital auf die Bühne zurückkehrt und mit den JunX den Titel „Das ist der Moment“ im Duett singt. Als Hommage an Jürgen Drews, der die Schlagerwelle in den ersten Jahren mit aufgebaut und zur Kultmarke gemacht hat, gibt es noch ein Medley seiner großen Hits von „Irgendwann, irgendwie, irgendwo“, über das in den Wolken gebaute Schloss und dem Bett im Kornfeld – die JunX hatten alles im Griff und an diesem Abend den archaischen und ewig gestrigen „Schlagerstempel“ symbolisch endgültig in den Restmüll geworfen. Das Publikum hat es ihnen frenetisch gedankt…
Raus aus den alten Schlagerschubladen! Auch Partysänger Axel Fischer kombiniert bei seinem Auftritt moderne Deep-House- und Techno-Sounds mit Kinderliedern wie „Bibi und Tina“ oder „Gummibärchenbande“, um dann nach „Amsterdam“ das Publikum mit dem Udo Jürgens-Klassiker „Griechischer Wein“ und einem Boygroup-Medley aus den 90ern mit auf eine musikalische Weltreise zu nehmen. Und siehe da, das Publikum kann ja auch textsicher auf Englisch mitsingen. Ganz ohne digitalen Laufband über der Bühne, die wie immer optisch auch ein Star der Schlagerwelle ist.
Coversongs waren nicht nur in der letzten Florian Silbereisen-Show das große Thema. Auch bei der #12. Schlagerwelle. Was sollen aber die Veranstalter kleiner Events machen, wenn die großen Stars ihre Gagen ist astronomische Höhen von fünf- bis sogar sechsstelligen Euro-Summen treiben. Das ist wirtschaftlicher Selbstmord.
Ausweg: Man sucht sich bezahlbare Acts, die die Hits der Superstars singen, die übrigens zum größten Teil ihre Songs auch nicht selber schreiben. Das Publikum will diese Mitsing-Klassiker hören, auch gerne als Cover, die manchmal besser gesungen sind als das Original. Sophia Venus, Barbara mit ihrer atemlosen Helene Fischer-Tribute-Show, Newcomerin Paulina Wagner und ein Kay Christiansen im DJ Ötzi-Look haben das eindrucksvoll bewiesen und Letzterer bereits nach wenigen Minuten eine Polonaise durch das Festivalzelt musikalisch angeführt.
Emotionale Momente mit Musik schaffen, das ist die einzige Wahrheit, die jetzt zählt. Erinnerungen an die schönen Momente im Leben, Küsse, Tanzschule, Feste & Feten, Familienfeiern – alles durch Musik wieder für ein paar Stunden positiv bildlich gemacht, in einer Zeit, in der die schlechten Nachrichten und Krisenberichte täglich auf uns einhämmern. Ohnmachtsgefühle, Rückzug und Einsamkeit abschalten, die bunten Schlaghosen und funkelnde Pailletten-Minis entstauben und zurück in die Schlagerzukunft reisen.
Die Schlagerwelle hat mir belegt, wie wichtig es ist auf diese Wünsche einzugehen. Das Publikum ist einfach nur dankbar dafür. Schlager das ist auch eine musikalische „Zeitmaschine“ in eine Generation, die noch nicht die Letzte war, die sich nicht ständig selbst optimieren muss und in der es noch kein Verbrechen war, wenn man nicht wusste, wie man das Wort „Bürgermeister“ richtig gendert. Ich weiß das übrigens heute noch nicht. Na und?
Raus aus den alten Schlagerschubladen, mit VoXXclub und ihrem mehrstimmigen perfekt gesungenem Volkspop wurde bei dem Festival am Wochenende eine weitere musikalische Nuance geöffnet. „Rock mi“ und so ganz nebenbei präsentierten uns die Jungs eine „Weltpremiere“ ihres neuesten Songs „Wir feiern die Party“. Mit dem Motto haben sie den Nagel punktgenau auf den Kopf getroffen und sicher die nächste Hymne für „Die große Schlagerfest XXL-Tour“ von Florian Silbereisen erschaffen. Denn auch dort sind sie 2024 live dabei.
Und wer die Jungs von VoXXclub Backstage oder privat auf dem Festivalgelände beobachtet hat (sie waren schon seit Donnerstag vor Ort), der sieht schnell: Hier stimmt die Chemie und der authentische Teamgeist der sympathischen Lederhosen-Boygroup. Ihre Berufung: die Leidenschaft zur Musik.
Auch „Ich will Spaß“-Markus hat uns weit nach Mitternacht, unterstützt von Ehefrau Yvonne, mit auf eine emotionale Neue Deutsche Welle-Zeitreise genommen. Vor mir steht ein Mann mit Pilotenbrille und echter(!) 70er Jahre Matte, den ich zugegeben in meinem Denkmuster eher als Pink-Floyd-Fan oder Gratefull Dead-Hippie eingestuft hätte. Als Markus den NDW-Klassiker „Major Tom“ anstimmt, tanzt und rudert dieser Mann völlig losgelöst von der Erde zu einem Schlager! Und mit ihm tausende andere im Festivalzelt, trotz der späten Stunde. Raus aus der Schlagerschublade!
Schlagerleidenschaft mit 64 Jahren beweist Markus bei seinem Spontanauftritt auf der After-Show-Party mit den Rocking Waves im Baltic Saal. (Foto)
Und auch am zweiten Festival-Tag hat die Hermes House Band mit Gesang, Ukulele, Mundharmonika und Saxophon unplugged bewiesen, das internationale Cover-Klassiker im eigenen Sound die Menschen aus dem kühlen Norddeutschland emotional bewegen. Bei den ersten Takten des stampfenden Rhythmus von „Country Roads“ tobt das ganze Festzelt.
Dann geht die Zeitreise weiter zurück in den vergangenen Sommer auf Mallorca. Zum Bierkönig in die Schinkenstraße. Marry und Tobee geben dem Publikum den Rest. Ekstase pur mit Party- und Ballermannschlager. Raus aus dem Schubladendenken.
Nochmal zurück zum neuen Kult-Opening mit dem lokalen Spielmannszug aus Oldenburg in Schleswig-Holstein. Ihr „Mambo“ von Herbert Grönemeyer wurde genauso abgefeiert, wie das obligatorische „Layla“ beim Ausmarsch durch das Party-Publikum. Es droht Wiederholungsgefahr im nächsten Jahr.
Auch 2024 setzt die Schlagerwelle wieder auf Schlager ohne musikalische Grenzen. Schon bestätigt sind Partysänger Mickie Krause, 90er Klassiker mit Oli P. , Volksrock mit den Dorfrockern und frischen Popschlager mit Tim Peters und seiner Band.
Hier für alle Chronisten die Künstlerliste vom Wochenende: Spielmannszug Oldenburg in Holstein, Kay Christiansen, Sophia Venus, Die JunX, Axel Fischer, VoXXclub, Markus, The Rocking Waves, DJ Hendrik Treuse, DJ Domic, Barbara, Pascal Krieger, Hermes House Band, Marry, Tobee, Der DJ vom Kiez Jürgen Brosda.
Popschlagersänger Jörg Bausch musste krankheitsbedingt kurzfristig absagen. Gute Besserung von mir.
Was ich am Festivalwochenende gelernt habe, jedes Schlagerevent muss seinen eigenen, kreativen Weg finden, um für sein Publikum (Zielgruppe) emotionale Momente zu schaffen. Das ewige Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit. Schafft euch eigene Marken und raus aus den Schlagerschubladen.
Ich selbst habe es am Sonntagmorgen ein paar Kilometer weiter probiert. Am Südstrand von Fehmarn hat im September 1970 beim „Love & Peace Festival“ ein gewisser Jimi Hendrix seinen letzten Gig. Ob Jimi Hendrix Schlager-Fan geworden wäre, kann ich nicht beurteilen, aber er kannte kein Schubladendenken. Sein Gitarrensound war experimentell und innovativ. Damit hat er Musikgeschichte geschrieben. Ich habe seinen Gedenkstein besucht und ihm aus meinem Buch „Endstation Schlager“ vorgelesen…
© Fotos: Jörg Mandt, Ankündigung: Pressefotos: Mickie Krause / Oli P. / Die Dorfrocker | Tim Peters