Ein Essay von Jörg Mandt (Buchautor „Endstation Schlager“ und Team Gabis-Schlager.Club)
Weinen ist der Wolkenbruch der Seele. Klingt schwülstig, passt aber ideal zum Light Entertainment Schlager. Und im Moment gibt es Schlagermomente, in denen ich losheulen möchte, wie ein angeschlagener Rocky Balboa im Boxring um dann im nächsten Moment wieder vor Freude lauthals zu lachen. Meine Achterbahnfahrt der Gefühle. Aber schon Maite Kelly wusste ja „Für Gefühle kann man nichts“.
Bevor nun bald das erste weihevolle „Last Christmas“ im Radio erklingt, hier noch ein kurzer und selbstverständlich subjektiver Rückblick auf das Schlagerjahr 2023. Was bei mir so hängengeblieben ist.
Aus, Schluss, Ende! Weinen möchte ich über den letzten Vorhang vom „Deutschen Live Entertainment Award LEA“ an dessen Verbandsspitze seit 2010 Künstlermanager Dieter Weidenfeld (Matthias Reim, Howard Carpendale) stand.
“Ziel der Preisverleihung war es, Kulturveranstaltern ein Gesicht zu geben, ihre Arbeit transparent zu machen und ihr innovatives und ökonomisches Potenzial aufzuzeigen“, heißt es zum Ende der Organisation aus Hamburg.
Geehrt wurden die Macher hinter den Kulissen. Die Schlagerbranche wurde da nicht ausgeschlossen. Awards gab es u.a. für die Peter Maffay-Tour, die Howard Carpendale -Tour, die Helene Fischer-Tour und im letzten Jahr noch für die Tour von Roland Kaiser (Titelfoto). Nun wurde die Organisation beerdigt und in der Festhalle an der Frankfurter Messe gehen für immer die LEA-Lichter aus. Vielleicht teilen sich LEA und ECHO nun einen Platz in der Gruft der deutschen Musikpreise.
Hier glitzert und funkelt es noch! Florian Silbereisen und sein Team, die sicher wie keine anderen die Finger am Puls des Schlagers haben, konnten in der letzten Sendung allerdings keinen wirklich neuen Hit präsentieren, der auf den Partys zwischen Flensburg und Freiburg noch in fünf Jahren textsicher und euphorisch von den Fans mitgesungen wird.
Die TV-Macher setzten auf die großen alten Hits und ihrer Interpreten oder auf neue Coverversionen von erfolgreichen Songs, da kennt zumindest jeder die Melodie und manchmal auch den Text. Aber der läuft ja sowieso auf einem digitalen Laufband in der Halle mit.
Das muss ja nicht schlecht sein, denn Coverhits wie „Country Roads“ von der Hermes House Band haben inzwischen fast 115 Millionen Streams bei Spotify. Auch DJ Ötzi hat sich bereits an dem Song versucht. Der Mann mit der weißen Mütze hat das Covern von Erfolgshits zu seinem musikalischen Markenkern gemacht. Dem Bruce Channel Klassiker „Hey! Baby“ von 1961 im neuen Sound hat er zum Streaming-Hit mit über 40 Millionen Klicks allein bei Spotify verholfen hat. Und wie wir alle wissen, sind Streams die neue Währung der Schlagerzukunft.

Für die (Boulevard)-Medien wurden wieder zwei reichweitenstarke Momente in Szene gesetzt. Der Dauerbrenner „Was läuft da zwischen Beatrice Egli und Florian Silbereisen beim Liebes-Duett?“. Diesmal wurde ihr musikalisches Baby in einer gelben Telefonzelle geboren. Von der Bundespost, die es von 1947 bis 1994 gab. Nostalgischer Flirt im „Fernsprechkiosk“ – alles glitzert, alles funkelt.
Und natürlich der von Michelle angekündigte Abschied aus dem Showgeschäft. Endstation Schlager für Michelle?

„Sie kann nicht mehr, ihr fehle die Kraft“, die dann immerhin noch für ein neues Album, ihr Abschiedsalbum in 2024 und eine große Silbereisen Hallen-Tournee reichen soll, mit Stars aus der von ihr kritisierten Haifischbranche. Michelle beendet ihre Karriere – mal wieder. Schon 2007 gab sie das Ende medienwirksam in einer Pressekonferenz bekannt, um dann 2009 ihr Abschiedsalbum „Goodbye“ zu veröffentlichen. Vielleicht bringt sie es diesmal als Fanpaket raus und kommt dann bald auf einem weißen Einhorn zurück auf die Showbühne geritten. Natürlich in einer Silbereisen-Show!
Das Thema „Karriereende“ bringt Schlagzeilen, nicht nur für die Rolling Stones oder die alten „Zirkuspferde“ der Branche Nino de Angelo und Heino. Keine Alben, keine Konzerte mehr – auch ein gewisser Howard Carpendale verkündete 2003, also vor zehn Jahren, seinen emotionalen Rückzug aus dem Musikbusiness. Sein letztes angekündigtes Konzert: 13. Dezember 2003 in der Kölnarena…
Hello again! Wir wir jetzt im Schlagerbooom sehen konnten, singt Howard Carpendale auch 2023 immer noch fleißig auf der Bühne seine Hits und ist Teil dieses Musikbusiness, deren Protagonisten uns von Liebe und Herzschmerz erzählen. Aber hinter den Kulissen keine Nächstenliebe kennen, denn hier haben die Gefühle Schweigepflicht! Die Schlagergilde, das sind keine Kulturkämpfer oder musikalische Aktivisten.
Zu dem Thema, wie aus „Das war es!“ ein „Das war es noch lange nicht!“ wird, fällt mir folgender Insiderwitz ein.
Fragt eine Schlange ein Kaninchen: „Weißt du, wer ich bin?“ Das Kaninchen überlegt: „Du hast keine Ohren, bist schleimig und hast eine gespaltene Zunge – du musst ein Schlagerkünstler sein!“
Nun, es wird auch künftig weitere Rücktritte und zeitnah anschließende Comebacks in der Schlagerbranche geben. „Die Fans wünschen sich das so sehr“. Das gehört zum fiktionalen Showgeschäft. Und den künftigen Silbereisen-Shows bringt auch das wieder ein Millionenpublikum. Obwohl diesmal die Erfolgslatte von 5 Millionen TV-Zuschauer nicht genommen wurde. Fehlt doch mal wieder eine TV-Schlager-Hochzeit. Michelle, die Vierte?
„Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen. Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus. Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.“ Wusste schon Johann Wolfgang von Goethe in seinem „Faust“ über das Publikum zu berichten.
Wie schon in diesem Jahr werden die TV-Sender auch künftig auf die großen Namen und ihre Hits setzen. Denn den meisten Zuschauern ist es lieber, Andrea Berg singt zum xten Mal ihr „Du hast mich tausendmal belogen“, als einen Newcomer mit seinem aktuellen Pop-Schlager zu sehen, der in Bottrop Weltstar ist und überall anders selber zahlen muss.
Klappern gehört zum Handwerk, erst recht im Schlagergeschäft. Der Mut zum Getöse kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Kessel Buntes von Schlagern, die Freitag für Freitag veröffentlicht werden, keine Alleinstellungsmerkmale mehr in den zahlreichen Songs wiederzufinden sind. Die Schlagerbranche setzt weiter auf musikalisch sichere Kohärenz, statt in Turbulenzen und Dissonanzen zu geraten.
Ein hoffentlich erfolgreiches Comeback feiert jetzt die Label-Legende HANSA. 1964 in Berlin gegründet von Peter Meisel, Thomas Meisel und dem großen Schlagerkomponisten und Produzenten Christian Bruhn. Meine Vorfreude ist groß, denn Künstler wie Bernd Clüver, Juliane Werding, Dieter Bohlen, Oli P. und „da ist er wieder“ Roland Kaiser haben unter der „Hansa-Kogge“ ihre Nummer 1 Hits veröffentlicht.
Helene Fischer und Roland Kaiser sind für den Schlager sowas wie Erling Haaland und Lionel Messi für den Fußball. Die einen Ausnahmespieler auf dem Rasen, die anderen Ausnahmekünstler in den Arenen. Zwei sehr erfolgreiche Tourneen haben in diesem Jahr bewiesen, der Schlager lebt noch. Und im nächsten Jahr geht Roland Kaiser nun auch in die großen Fußballstadien unserer Republik.
Zwar gab es in diesem Jahr keinen ganz großen Ballermann-Hit wie „Layla“ im Vorjahr. Aber das neue, erfolgreiche Event „Inselfieber“ am Centro in Oberhausen mit den Mallorca-Stars vom „Bierkönig“, „Mega Park“ und dem ehemaligen „Riu Palace“ läuft der Marke „Olé Partys“ sicher bald den Rang und damit das zahlende Publikum ab.
Der Ticketkauf für ein Schlager-Event wird 2023 nicht mehr allein durch die Namen der Künstlerinnen und Künstler auf den Plakaten und den Social Media Posts entschieden. Sondern überwiegend an der Tankstelle oder an der Discounterkasse. Denn die hier explodierenden Preise entscheiden letztendlich darüber, wie viel am Monatsende noch für ein Schlagerkonzert-Ticket in der Haushaltskasse übrig ist. Der Schlager-Fan musste in diesem Jahr sein Geld zusammenhalten oder er beschränkt sich auf den Verzehr von Tütensuppen für ein Vicky Leandros Konzertticket.

Und einen echten Boom oder Trend gibt es dann doch noch in der Branche. Duette sind wieder angesagt. Jede und jeder singt mit jedem und jede. Popschlager singt mit Partykünstler, Klassiker mit frischem Popschlagerkünstlern. Eloy de Jong & Ross Anthony. Saskia Leppin und TOBEE, Thomas Anders & Florian Silbereisen, Mickie Krause & Sonia Liebing, Mickie Kraus mit Markus Becker, Ben Zucker mit Kerstin Ott und Axel Fischer & Carolina Peukmann besingen das „Autoscootergefühl“. Alles glitzert, rummst, bumst und kracht!
„Gemeinsam sind wir stark“. Hoffen wir, das den Textern und Musikautoren ein neues, frisches „Warum hast du nicht nein gesagt“ einfällt. Durch die neuen Duette wird der Schlager nun zur Manifestation der musikalischen Migration. Das ist schon toll. Und clever. Yes, we sing happy together!

In einigen Tagen steigt wieder er Branchentreff in Düsseldorf von Uwe Hübner und auch da ist der ehemalige Veranstaltungsort, das Schlösser Quartier, seit diesem August in der Insolvenz. Wie so viele andere Unternehmen in der Event-, Veranstaltungs- und Gastronomie-Branche auch. Nein, es boomt nicht mehr in Deutschland.
Durchhalten lieber Uwe! Denn nachdem auch der beliebte SMAGO-Award in Berlin in diesem Jahr nicht stattgefunden hat, ist dein Branchentreff der letzte „Schlagerritter“ auf bundesweiter Bühne.
Es fehlt in der Branche ein Geschichtenerzähler wie Robert Habeck, der uns märchenhaft schön von der Schlagerstrategie der Zukunft in 2024 erzählt. Also alles wird gut in 2024 oder das Jahr danach, oder das Jahr danach, oder das Jahr danach.

© Bildnachweise Carpendale/ Fischer / Kaiser – Pressefoto: Universal Music/ Moritz Künster; Universal Music /Lina Tesch; Semmel Concerts Entertainment GmbH. Beatrice Egli/Florian Silbereisen – Gabis-Schlager.Club/Herbert Horwat beim Schlagerboom 2023, Michelle: Pressefoto Universal Music, Saskia Leppin & Tobee: Presse Xtreme Sound, Uwe Hübner: Gabis-Schlager.Club, Autor Jörg Mandt: Privat