Ein Essay von Jörg Mandt
Jeder Mensch besitzt seinen persönlichen „Soundtrack des Lebens“. Songs, die für ihn ganz persönliche Erinnerungen und Bedeutungen haben. Aber es ist wie bei einem Kaleidoskop – auch wenn mehrere durchblicken und die gleiche Situation sehen, so ergibt sich doch für jeden Menschen ein anderes Bild vor Augen.
Für Newcomer und junge Künstlerinnen war es nie leicht, in das umkämpfte Schlagergeschäft einzusteigen. Aber wahrscheinlich war es auch noch nie so schwer wie im Moment, denn der große Boom ist inzwischen wieder abgeflaut. Corona trägt daran sicher eine Mitschuld und auch die neue Realität, in der viele Menschen genau auf jeden Euro schauen müssen, den sie jetzt ausgeben. Die Ticketverkäufe vieler Schlagerveranstaltungen, bei denen viele Newcomer ihre Chance erhalten, sind eingebrochen, manche Touren gleich ganz abgesagt worden.
Was noch läuft, sind die Superstars der Branche, Party- und Ballermann für junge Zielgruppen und kostenlose Stadt- und Straßenfeste. Die Künstler verdienen hier ihr Geld, aber warum soll ich als Schlagerfan dann noch 20 oder mehr Euro für eine Veranstaltung zahlen, wenn nur wenige Kilometer weiter und drei Tage später dieselben Künstler für ihre Halbplaybackshow plötzlich Eintritt verlangen?
Alles nur auf die Pandemie und Wirtschaftskrise zu schieben ist allerdings falsch. Ich persönlich empfinde, dass der Schlager und moderne Popschlager inzwischen zu sehr im Gleichschritt marschiert. Die Songs, Sounds und Lyrics ähneln sich immer mehr. Nun sagen einige, kopieren und weiter kopieren gehört zur Schlager-DNA. Das sehe ich aber anders und wünsche mir, das bei neuen Veröffentlichungen durchaus mehr Chaos und musikalische Experimente sein dürfen. Und hier sind alle Neulinge im Geschäft gefragt. Denn ein Künstler, eine Künstlerin die ihre Marke und das musikalische Konzept erfolgreich gefunden haben, brauchen sich nicht mehr ändern.
Die Chancen durch einen ausgefallenen Song, ein neues Musikkonzept auf sich aufmerksam zu machen stehen im Moment, wo alles so geradlinig und konform abläuft, so gut wie noch nie. Der Schlager darf seine Grenzen ausloten. Denn genau das ist die Aufgabe von Kultur. Und das Schlagergenre ist auch eine Art Kultur. Ich kann mir nicht vorstellen, dass musikalische Turbo-Produktionen und Musik-Ethik wirklich so gut zusammen passen.
Grenzbereiche auslosten – im Partybereich hat das Mattias Distel von „Summerfield“ erkannt und erfolgreich umgesetzt. Als sein Alter Ego „Ikke Hüftgold“ hat er diese Grenzen nicht nur ausgelotet, sondern auch überschritten. Na und? Polarisierung und Provokation sind inzwischen die Kernkompetenz seiner Marke.

Goldener Anzug beim ESC-Vorentscheid. Bierbauch, ausgestreckter Mittelfinger, Fetthaarperücke und roter Trainingsanzug zahlen marketingtechnisch bestens auf die Marke „Ikke Hüftgold“ ein. Und er hat damit sein durchaus großes Publikum gefunden, wird von ihnen geachtet. Auch wenn zahlreiche andere seine Songs und die „gespielte“ Prollart verachten.

Vielleicht ist es für viele Newcomer inzwischen diese Angst vor der neuen „Schlagerpolizei“. Irgendwelche Social Media-Aktionisten, meist anonym, die unserer Branche vorschreiben wollen, über was wir noch singen dürfen und über was nicht. Von Musik selber aber keine Ahnung haben. Leute das macht wirklich keinen Spaß mehr. Es gibt nicht nur Schwarz oder Weiß – das ist ein naives Weltbild. Auch im Schlager gibt es Grautöne und die sind durchaus interessant und hörenswert. Das Schlagerimage ist viel besser als sein öffentlicher Ruf!
Trotzdem, bevor ein Newcomer da riskiert etwas völlig Neues, Gewagtes auszuprobieren, macht er es dann doch lieber so wie alle anderen auch. Das ist dann zwar Mainstream, bringt aber keine Vielfalt und noch weniger Aufmerksamkeit auf die Künstler und ihre Songs.
Heute müssen junge Künstler nicht nur singen und auf der Bühne stehen, sie müssen gleichzeitig erfolgreiche Influencer in eigener Sache sein. T-Shirt Designer und Gimmick-Erfinder für den Merchandise-Verkauf, Social Media-Follower Marketing-Experten und oftmals sogar Veranstalter in einer Person sein. Ehrlich, das ist ein Fulltime-Job und darüber sollte sich jede Newcomerin und jeder Schlagereinsteiger bewusst werden.
Die Musik braucht ein Konzept, das möglichst einzigartig ist und auch zum Künstler und seiner Person passt. Da reicht es eben nicht, Floskeln in die Pressemitteilung zum Song oder Album zu schreiben: „Einzigartig und authentisch…“.
Ein Gesicht fällt mir nicht nur mit seiner Musik, sondern besonders mit seinen INSTA-Posts immer wieder positiv auf. Tim Peters geht hier für den Schlager neue Wege und macht sich sicher Gedanken, was er so in die Welt raushaut. Auch er lotet immer wieder Grenzen aus, ohne dabei in die Schlagerleitplanken zu crashen. Guckt mal rein, denn es ist mehr als immer nur: „Wir rocken diese Bühne und wir rocken das Fest…“.

Der Sänger aus Düsseldorf macht bestes Content-Marketing, was sich auf Dauer auch positiv für ihn und seine Schlagermarke auszahlen wird. Für ihn ist Schlager auch sexy und das gehört zusammen. Warum also keinen Song drüber machen?

Während es für alle Einsteiger ins Schlagergeschäft immer schwerer und härter wird, geht es der Musikindustrie so gut wie schon lange nicht mehr. Früher mussten von ihr noch Vinyl-Schallplatten produziert werden, später dann CD’s. Diese Produktionskosten entfallen heute im Streaming-Zeitalter, da wird nur noch das „Song-Master“ an den Dienst gegeben. Fertig. Was allerdings bei den Major-Labels gleich geblieben ist, ist der „Deal“. Bei den großen Labels oftmals ein 80:20 Deal. Das heißt 80 Prozent für das Label, 20 Prozent für den Künstler. BMG macht da inzwischen eine rühmliche Ausnahme und schließt schon 50:50 Verträge ab.
Eine Schlager-Newcomerin hat mir das alles mit einem wunderbaren Bild beschrieben: „Alles, was ich mir wirklich gewünscht habe, war ein Plattenvertrag bei einer großen Firma. Das war mein Traum. Bis dahin stand ich vor einer sehr hohen, für mich unüberwindbaren Mauer, hinter der für mich das Schlager-Paradies wartete. Als sich dann endlich mit einem Plattenvertrag in der Hand für mich diese Tür in der Mauer öffnete, war ich am Ziel. Das dachte ich zumindest für ein paar Wochen, bis ich dann feststellen musste, dass ich nicht im Paradies gelandet bin, sondern sich dahinter eine noch höhere Mauer verbarg. Diesmal allerdings mit einem Wassergraben davor, in dem sich die Haifische tummelten.“
Früher haben Fans und Hörer eine CD gekauft und es war ganz gleich, wie oft diese dann im Auto oder zuhause gehört wurden. Das hat sich mit dem Boom des Streaming Marktes völlig verändert, jetzt ist es wichtig, wie oft ein Song gehört wird. Denn nur dafür gibt es Geld. Wenn eine Person besagten Song nicht vier bis zehn Mal hört, hat der Song für Streaming Dienste wenig wert.
Nur bei hohen Streamingzahlen besteht die minimal-Chance, in eine der wichtigen Playlists der Dienste zu kommen und dadurch die Reichweite und damit auch die Aufmerksamkeit von Song und Künstler um ein Vielfaches zu erhöhen. Schafft es ein Newcomer, in diese von den Streamingdiensten generierten Playlisten aufgenommen zu werden, dann hat er den Jackpot gezogen!
Mit immer wieder deckungsgleichen Einheitsschlagern, die zwar nirgendwo anecken, aber so auch ganz schnell wieder vergessen werden, wird der Weg in die neue digitale Schlagerwelt sehr schwer und dann heißt es wirklich bald „Endstation Schlager“. Deshalb hier mein Aufruf, an alle jungen Kreativen der Branche. Habt mehr Mut, lieber für mehr Chaos als immer „Alles nur geklaut“.
Jörg Mandt, Autor vom Roman „Endstation Schlager“
